Brief eines Wolfes an die Menschenrudel

von Editor

files/vjbh/vjbh-bilder/Bilder fuer Artikel/jungwoelfe-des-caladarudels-foto-amt-fuer-jagd-und-fischerei-gr.jpg"Ich heisse Lupa und lebe mit meinem Lupo seit bald fünf Jahren am Calanda. Wir sind beide Italiener, aber wir haben uns hier in der Gegend zufällig getroffen. Es war Liebe auf den ersten Blick Am Calanda ist es eigentlich gut für uns. Es hat viel Wald, und es ist so steil, dass man nicht überall den Menschen über den Weg läuft.

Schon dreimal haben wir Junge bekommen, das ist für uns normal. Die Jungen haben wir gut vor den Menschen versteckt, wir wissen ja von altersher, wie grob die Menschen, vor allem die mit den knallenden Rohren, mit uns umgehen können.

Seit wir das erste Mal Junge bekamen, sagen die Menschen, wir seien ein Rudel. Wir sind aber nur eine ganz gewöhnliche Familie.

Wir essen Fleisch, wie die Menschen auch. Wir müssen uns ziemlich anstrengen, um Wildtiere jagen zu können. Manchmal sehen wir, dass ein Tier schwach oder alt ist, das nehmen wir dann zuerst.

Meine Kleinen kann ich noch nicht lange allein lassen, deshalb geht meist Lupo mit den grossen Buben auf die Jagd. Sie wissen genau, dass sie keine Schafe oder Kälber jagen dürfen. Die Menschen wollen die Schafe selber essen. Darum schliessen sie sie im Winter in Holzhäusern ein und töten sie im Frühjahr, vor allem die jungen Lämmer.

Lupo und die Jungs gehen nur auf Schafe, wenn wir wahnsinnig Hunger haben und wenn kein Hund in der Nähe ist. Die sind lästig, und dann kommen die Menschen gerannt.

Kürzlich ist unseren Jungs in Trin ein verletztes Reh entwischt, sie natürlich hinterher grad zwischen die Häuser. Als sie es dann hatten, ist ein Licht angegangen und Lupo hat zum Rückzug geblasen. Man weiss ja nie, wie die im Rudel jagenden Menschen reagieren. Schon zweimal ist einer unserer Buben von so einem Menschen brutal getötet worden.

Die Wolfsjäger schreiben plumpe, verlogene und verleumderische Leserbriefe und machen so den Menschen Angst. Immer mehr glauben deshalb, dass wir für die Menschen gefährlich seien. Einige wollen uns jetzt sogar unsere Kinder umbringen, obwohl wir nie jemandem etwas getan haben, die Kinder sowieso nicht.

Wenn unsere Kinder gross sind, müssen sie weg, vor allem die Buben. Die Mädchen können bleiben, sie bekommen aber noch keine Kinder, solange ich nicht alt bin. Wenn sie eine eigene Familie gründen wollen, müssen sie auch weg. Doch in der Fremde ist es gefährlich. Ein Bub ist in Zürich von einem Zug überfahren worden, und im Wallis hat es mehrere Menschenrudel mit Knallrohren.

Ich weiss nicht, was wir noch machen können, damit die Menschen uns in Ruhe lassen. Sogar das Hirschfleisch mögen sie uns nicht gönnen, obwohl die Hirsche Schaden im Wald machen, wenn es viele sind. Die Jäger sagen, dass sie den Wald schützen müssen, doch das machen wir ja für sie, wenn man uns in Ruhe lässt.

Ich wünschte, dass die Menschen uns glauben, dass wir sie auch gerne in Ruhe lassen.

Lupa (übermittelt von Gustav Ott aus Domat/Ems).

Quelle: Leserbrief im Forum der "Südostschweiz", 23. April 2015.
Bild: Amt für Jagd und Fischerei Graubünden.

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